Bandscheibenvorfall.. Fotos: © Tobias L. Schulte, Bochum
Balve/Bochum. Professor Dr. Tobias Schulte, gebürtiger Balver und jetziger Chefarzt der Uniklinik Bochum, schreibt exklusiv für die HÖNNE-ZEITUNG über die drei Säulen der Rückenschmerzbehandlung. Nach dem ersten Teil mit der 1. Säule geht es nun hier weiter.
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2. Säule: „Reparatur“-Operationen
Die Patienten, die mit den bisher genannten Verfahren nicht zufriedenstellend zu behandeln sind, können von operativen Behandlungen profitieren, bei denen quasi Reparaturen in und an der Wirbelsäule durchgeführt werden. Darunter fallen etwa minimalinvasive Dekompressionsverfahren, aber auch stabilisierende und formkorrigierende Instrumentationen (Einbringung von Implantaten). Gezielt und korrekt eingesetzt sind diese Verfahren sehr hilfreiche und etablierte Therapien.
Bei einem Bandscheibenvorfall liegt das Problem häufig daran, dass einzelne wichtige Nerven, die in der Wirbelsäule verlaufen, durch das vorgewölbte Bandscheibengewebe mechanisch gequetscht sind. Dies führt zu den typischen Rücken-Bein-Schmerzen.
Alle oben genannten konservativen Verfahren können grundsätzlich zu einer Besserung von Beschwerden beitragen, sie können aber nicht den mechanischen Druck, der auf dem Nerv lastet, kurzfristig reduzieren.
Bestimmte konservative Maßnahmen (z.B. bestimmte Medikamente) können die Empfindlichkeit des gequetschten Nervs reduzieren, ohne ihn allerdings vom mechanischen Druck zu befreien.
Der natürliche Verlauf eines Bandscheibenvorfalles kann sich in drei Richtungen entwickeln: Der Vorfall kann bzgl. seiner Größe über Monate und Jahre konstant bleiben, er kann größer werden, er kann aber auch schrumpfen, austrocknen und kleiner werden.
Letzteres ist abhängig vom Flüssigkeitsgehalt des Bandscheibenvorfalles. Wie der individuelle Bandscheibenvorfall eines einzelnen Patienten sich verhält, ist im Vorfeld nicht eindeutig vorhersehbar. Sind konservative Behandlungen nicht erfolgreich, kann es durchaus sinnvoll sein, den mechanischen Druck von der Nervenwurzel wegzunehmen.
Dies ist mit einer operativen Entfernung des Bandscheibenvorfalles gleichzusetzen. Von dem Moment an, an dem der Nerv mechanisch entlastet ist, kann der Erholungsprozess im Nerv beginnen.
Wie schnell sich der Nerv erholt, ob Restbeschwerden verbleiben und wie ausgeprägt ein solcher Rest ist, ist nicht vorhersehbar. Sicher ist allerdings, dass eine mechanische Druckentlastung schneller und effektiver zu einer Erholung des Nervs führt, als sämtliche anderen Maßnahmen.
Ich hab' Rücken
Die Operation des Bandscheibenvorfalles ist dann empfohlen, wenn konservative Maßnahmen über einen Zeitraum von 6 bis 12 Wochen nicht zu einer merklichen Besserung der Beschwerden geführt haben. Eine Ausnahme bilden akute, alltagsrelevante Lähmungen der Muskelgruppen, die vom betroffenen Nerv versorgt werden. Wenn eine solche Lähmung eintritt, sollte innerhalb von 48 Stunden operiert werden.
Wichtig für die Krankheitsverarbeitung des Patienten ist das Wissen, dass durch eine OP eines Bandscheibenvorfalles lediglich der Startschuss für die Erholung des Nervs gesetzt wird, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Bandscheibe wird in den nächsten Jahren weiter degenerieren und verschleißen.
Die OP führt nicht zu einer Rückbildung sämtlicher Degenerationsprozesse in der Bandscheibe selbst. Die Bandscheibe wird immer eine degenerative Bandscheibe bleiben. Dies führt allerdings nicht dazu, dass der Patient zwingend permanent Beschwerden haben muss.
Bei der Operation eines Bandscheibenvorfalles wird technisch lediglich das vorgewölbte Bandscheibenfragment entfernt, nicht die gesamte Bandscheibe. Heutzutage werden solche OPs in mikrochirurgischer Technik unter Zuhilfenahme des OP-Mikroskops durchgeführt oder in endoskopischer Technik.
Die klinischen Ergebnisse der OPs von Bandscheibenvorfällen an der Lendenwirbelsäule sind sehr gut. Die Komplikationsrate ist gering und die operative Therapie schneidet in den vorliegenden Studien in der Regel besser ab als die konservative Therapie.
Bei der Spinalkanalstenose des älteren Menschen liegen ebenfalls Nerven-Kompressionsprobleme der Lendenwirbelsäule vor. Hier drückt allerdings kein Bandscheibenvorfall auf den Nerv, sondern durch Verschleißprozesse verdickte Bandstrukturen (Bindegewebe), die im Wirbelsäulenkanal verlaufen. Wenn konservative Maßnahmen nicht zu einer Besserung der Beschwerden führen, ist die operative Erweiterung des Wirbelkanals eine sinnvolle Behandlung.
Der Sinn dieser OP ist die mechanische Entlastung der Nerven. Auch hier wird durch die OP der Startschuss des Erholungsprozesses gesetzt.
Prof. Dr. Tobias Schulte
Sämtliche konservativen Therapiemaßnahmen können leider nicht zu einer Erweiterung des Wirbelsäulenkanals führen. Somit ist die operative Erweiterung häufig die einzig zielführende Therapie, wenn der Patient unter belastenden Rücken-Bein-Schmerzen durch eine Spinalkanalstenose leidet.
Ein fortgeschrittenes Alter ist per se keine isolierte Kontraindikation für eine OP. Auch Patienten, die deutlich älter als 80 Jahre alt sind, können sehr erfolgreich operativ behandelt werden. Das Ziel dieser OP ist die Reduktion der Beinschmerzen, die Verlängerung der Gehstrecke und somit die Verbesserung der Lebensqualität. Bei Patienten, die erheblich unter einer Einschränkung der Lebensqualität durch die verminderte Mobilität leiden, kann unter Berücksichtigung des sog. „biologischen Alters“ und der Begleiterkrankungen eine OP sinnvoll sein.
Liegt das Problem nicht allein in einer Quetschung einzelner Nerven, sondern in bewegungs- und belastungsabhängigen Instabilitätsschmerzen im Rückenbereich selbst, so kann eine Stabilisierungsoperation mit Implantaten zu einer Reduktion der schmerzhaften Bewegungen führen. Eine solche OP wird im Volksmund „Versteifungsoperation“ genannt.
Höhenminderung der Bandscheibe. © Tobias L. Schulte, Bochum
Dieser Begriff ist leider psychologisch sehr negativ besetzt. Man sollte sich bewusstmachen, dass der natürliche Endzustand eines Wirbelsäulensegmentes die spontane Fusion darstellt. Dies bedeutet, dass beim Vorliegen einer Segmentdegeneration die Degeneration ohne Zutun von Ärzten und Therapeuten nach vielen Jahren und Jahrzehnten von allein versteift. Dies führte dann zu einer Besserung des Rückenschmerzes. Dieser Prozess der spontanen Fusion kann viele Jahrzehnte benötigen.
Patienten mit entsprechenden Beschwerden können durch eine operative Versteifung zeitnah eine Besserung der Schmerzen bewirken. Der Sinn der operativen Fusion liegt in der Stabilisierung des erkrankten Segmentes. Sportliche Maßnahmen haben im Konzept der konservativen Behandlung auch als Ziel, die Segmentinstabilität durch Muskeltraining zu erhöhen. Operative Implantate haben das gleiche Ziel, nutzen dazu allerdings andere Instrumente, nämlich Schrauben-Stab-Systeme.
Liegen Deformitäten im betroffenen Wirbelsäulenabschnitt vor, kann eine solche Fusionsoperation mit einer Stellungskorrektur der betroffenen Wirbel kombiniert werden.
Während Versteifungsoperationen in der Regel vor allem die Rückenschmerzkomponente verbessern, führen Entlastungsoperationen am Nerv in der Regel vor allem zu einer Verbesserung der Beinbeschwerden. Beide OP-Techniken können bei Bedarf kombiniert werden.
Der Begriff der Versteifungsoperation umfasst ein extrem breites Spektrum, welches von relativ einfachen 1-Segment-Operationen bis hin zu Versteifungen sehr großer Wirbelsäulenabschnitte reichen kann. Somit ist hier eine individuelle Bewertung der Situation entscheidend.
3. Säule: Neuromodulation
Die dritte Säule umfasst die Techniken der „Neuromodulation“, bei denen in minimalinvasiven, kleinen Eingriffen „elektrische Schrittmacher“ implantiert werden, die durch gezielt gesetzte, in der Regel nicht merkbare Stromimpulse, die Schmerzverarbeitung des Nervensystems bzw. die Nerven und Muskeln positiv beeinflussen. So können gestörte Funktionen wiederhergestellt werden. Diese „Schmerz-modulierenden“ und nicht „reparierenden“ Verfahren sind leider in der Allgemeinbevölkerung zu Unrecht noch viel zu wenig bekannt.
Für Patienten, die degenerativ bedingte Rücken- bzw. Rücken-Bein-Schmerzen haben und z.B. erhebliche Nebenerkrankungen aufweisen oder ein sehr fortgeschrittenes Alter haben oder schon zahlreiche Operationen hinter sich haben, keinen klaren Ansatz für eine Reparaturoperation zeigen oder schlicht und einfach reparierende OPs nicht wünschen, können Neuromodulations-Techniken sehr segensreiche Alternativen sein.
Am häufigsten sind in dieser Behandlungsgruppe drei Techniken.
Bei der ersten Technik werden Elektrodenkabel in einem kleinen Eingriff in Lokalanästhesie (ohne Vollnarkose) rechts und links neben der Wirbelsäule an die Muskulatur implantiert. Die Kabel werden mit einem Batteriesystem verbunden, welches schlussendlich auch implantiert wird. Zwischen den Elektrodenkabeln kann dann 24 h/Tag an 7 Tagen/Woche permanent über Monate und Jahre ein elektrisches Feld aufgebaut werden, man spricht von einer peripheren Nervenfeldstimulation.
Höhenminderung der Bandscheibe. © Tobias L. Schulte, Bochum
Dies elektrische Feld kann mit einer Fernbedienung von außen vom Patienten selbst eingestellt und verändert werden. Die heutigen Systeme enthalten wiederaufladbare Batterien, die je nach Bedarf von außen problemlos wieder aufgeladen werden können.
Das elektrische Feld bewirkt, dass der Schmerz, der in der Lendenwirbelsäulenregion entsteht, auf dem Weg von seinem Entstehungsort an der Lendenwirbelsäule über das Rückenmark bis ins Gehirn, wo der Schmerz dann vom Patienten empfunden wird, gedämpft wird.
Dabei findet keine Reparatur der verschlissenen Strukturen der Wirbelsäule statt. Lediglich die Schmerzweiterleitung wird gedämpft, vergleichbar dem Leiser-Drehen eines Autoradios. Ob ein Patient für diese Technik ein passender Kandidat ist, wird mit bestimmten Auswahltests in der Ambulanz erarbeitet.
Die zweite gängige Technik der Neuromodulation ist die sog. Rückenmarksstimulation, bei der entsprechende Elektrodenkabel nicht an die Muskulatur, sondern im Wirbelsäulenkanal dem Rückenmark angelagert werden. Das hier aufgebaute, permanent wirkende elektrische Feld führt zu einer Dämpfung des Rücken-Bein-Schmerzes.
Die dritte Technik der Neuromodulation nutzt ebenfalls ein implantiertes Elektrodensystem mit Batterie. Hier wird allerdings kein 24 Stunden aktives Stromfeld zur Schmerzdämpfung aufgebaut, sondern 2 x täglich wird das entsprechende System für je 30 Minuten eingeschaltet und führt zu einem intensiven Muskeltraining der kleinen, tiefen, direkt an der Wirbelsäule entspringenden Wirbelsäulenmuskeln. Diese Muskeln sind durch Sport und gezielte Physiotherapie relativ schlecht isoliert trainierbar. Sie sind allerdings sehr wichtig für die Grundstabilität der Wirbelsäule.
Durch entsprechende Elektroden mit entsprechender Programmierung können diese Muskeln sehr effektiv trainiert werden.
Während die beiden erstgenannten Neuromodulation Techniken direkt beim Einschalten des Gerätes eine Schmerzlinderung bewirken, führt die 3. Technik der Muskel-Stimulation erst nach einigen Wochen und Monaten zu einer Schmerzlinderung, nämlich dann, wenn die Muskulatur sich aufgebaut und neu strukturiert hat.
Top-10-Präventionsmaßnahmen
Die Techniken der Neuromodulation bewirken sicherlich keine vollständige Schmerzfreiheit. Studien haben aber zweifelsfrei ergeben, dass eine Schmerzlinderung um ca. 50 % und mehr durchaus realistisch ist. Dies ist für die meisten chronischen Schmerzpatienten ein erheblicher Gewinn an Lebensqualität. Zuvor benötigte, dauerhaft eingenommene Morphine sind häufig mit dieser Therapie nicht mehr notwendig.
Röntgenbilder einer „einfachen“ 1-Etagen-Versteifung.
Der Charme der Neuromodulations-Techniken liegt darin, dass die Implantationseingriffe sehr klein sind, zum Teil erfolgen sie in Lokalanästhesie. Die Nebenwirkungen sind minimalst und das Worst-Case-Szenario ist sehr überschaubar. Die Neuromodulation ist sicherlich kein Wundermittel, aber eine sehr sinnvolle Ergänzung der ersten beiden beschriebenen Behandlungssäulen.
Zusammenfassend stellt die Behandlung von degenerativ bedingten Rückenschmerzen und Rücken-Bein-Schmerzen eine erhebliche, sehr komplexe Herausforderung dar. Je mehr Patienten und Therapeuten das Problem gleichermaßen verstehen und erfassen, desto besser können gemeinsam realistische Ziele definiert werden. Welche Behandlung für welchen Patienten die richtige ist, ist sehr individuell in ausführlichen Beratungen zu klären.
Hilfreich ist besonders, wenn Kliniken sämtliche Behandlungsverfahren aus einer Hand anbieten können, um für jeden Patienten die optimale Therapie durchführen zu können. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Patienten und Angehörigen, niedergelassenen Ärzten und Physiotherapeuten sowie Kliniken, die auf Rückenschmerzen spezialisiert sind, ist der Schlüssel zum Erfolg.