Balve/Bochum. Professor Dr. Tobias Schulte (Foto), gebürtiger Balver und jetziger Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik der Ruhr-Universität Bochum, Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, schreibt exklusiv für die HÖNNE-ZEITUNG zum Thema „Rückenschmerz“. Ein Thema, das vermutlich jeden Menschen einmal beschäftigen wird, oder beschäftigt. Hier seine informative interessante Abhandlung.
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Die Wahrscheinlichkeit, dass jeder von uns mindestens einmal im Leben eine behandlungsbedürftige Phase an sehr belastenden Rücken- oder Rücken-Bein-Schmerzen erlebt, ist nahezu 100 %.
Aus diesem Grund macht es Sinn, sich mit dem Thema Rückenschmerz zu beschäftigen, sich bewusst zu machen, was man vorbeugend präventiv tun kann, und was im Fall der Fälle an sinnvollen Behandlungsoptionen zur Verfügung steht.
Ca. 1/3 der Patientinnen und Patienten beim Hausarzt leiden an Rückenschmerzen, in orthopädischen Praxen steigt die Quote auf bis zu 80 %. Weniger als 1 % der Patienten mit Rückenschmerzen werden schlussendlich operativ behandelt, was die Bedeutung der konservativen Therapie unterstreicht. Die jährlichen Gesamtkosten, die durch Rückenschmerzen in Deutschland verursacht werden, belaufen sich auf bis zu 53 Milliarden €, wobei direkte Kosten für z.B. Arztbesuche, Physiotherapie und Rehabilitation einen Anteil von ca. 46 % haben, den größeren Anteil von ca. 54 % bilden indirekte Kosten infolge von Arbeitsunfähigkeit und verminderter Produktivität am Arbeitsplatz. Das Thema Rückenschmerz ist also in allen Belangen eines der Top-Themen im Gesundheitswesen.
Wenn man sich die Veränderungen der Altersstruktur unserer Bevölkerung bewusst macht, wird klar, dass in Zukunft die Gruppe an Patienten mit verschleißbedingten Rückenschmerzen noch massiv weiter zunehmen wird.
Die Ursachen, die Rückenschmerzen auslösen können, sind extrem vielfältig. Häufig stehen Verschleißprozesse (Degeneration) im Vordergrund. Diese können z.B. die kleinen Wirbelgelenke, die Bandscheibe, die Kreuzdarmbeinfugen, den Spinalkanal oder auch knöcherne Strukturen betreffen.
Auch Fehlbildungen, Deformitäten (Skoliosen oder Kyphosen) und statische Probleme können zu Rückenschmerzen führen, ebenso wie muskuläre und funktionelle Probleme. Wirbelfrakturen, bei älteren Patienten häufig Osteoporose-bedingt, können zu erheblichen Rückenschmerzen führen, seltener finden sich entzündliche Prozesse oder Tumorleiden im Bereich der Wirbelsäule als Ursachen.
Bei zahlreichen Patienten finden sich allerdings trotz durchgeführter Diagnostik keine hinreichenden Erklärungen für die beklagten Rückenschmerzen. Im Gegensatz zu den oben dargestellten „spezifischen“ Ursachen, bei denen konkrete Veränderungen im Körper zu Beschwerden führen, spricht man bei Patienten ohne klar ersichtliche Ursache vom sog. „unspezifischen“ Kreuzschmerz.
Bezüglich des verschleißbedingten Rückenschmerzes fand in den letzten Jahrzehnten ein wichtiges Umdenken statt. Hat man früher vor allem körperliche Überlastungen als Hauptursache für die meisten Rückenschmerzen verantwortlich gemacht, so weiß man durch neuere Studien, dass die genetische Grundausstattung eines Menschen mindestens ebenso wichtig ist wie die körperliche Überlastung. Ein weiteres wesentliches Problem bei der Entstehung von Rückenschmerzen liegt im aktuellen Bewegungsmangel vieler Menschen. Geht man davon aus, dass ein Steinzeitmensch z.B. täglich 30-40 km zurückgelegt hat und die WHO täglich 10.000 Schritte empfiehlt (ca. 7 km) so erreichen zahlreiche Menschen heutzutage noch nicht einmal 2 km. Dieser Bewegungsmangel hat zahlreiche negative Konsequenzen auf die Gesundheit, unter anderem wirkt körperliche Bewegung vorbeugend bezüglich der Entstehung von Rückenschmerzen.
Alterungs- und verschleißbedingte Veränderungen der Wirbelsäule sind bis heute unumkehrbar und nicht reversibel. Die verschiedenen Verschleißprozesse können sich gegenseitig beeinflussen, gehören allerdings im gewissen Rahmen zum natürlichen Alterungsprozess dazu. Der Verschleiß der Wirbelsäule ist ein sehr komplexes und multifaktorielles Geschehen, bei dem viele Dinge auch heute noch nicht vollends aufgeklärt sind. Risikofaktoren, die den Verschleiß fördern, sind zunehmendes Alter, Übergewicht, Zuckerkrankheit, genetische Prädisposition, Rauchen, erhöhte Blutfettwerte, Östrogenmangel, biomechanische Belastungen und statische Probleme der Wirbelsäule.
Grün: normal hohe Bandscheibe; Rot: Höhenminderung; Blau: normale kleine Wirbelgelenke; Orange: Arthrose der kleinen Wirbelgelenke. © Tobias L. Schulte
Der Verschleiß der Wirbelsäule in ihrer Struktur ist das Eine, ob diese Verschleißprozesse aber auch zu Beschwerden des Patienten führen, ist das Andere. Warum gewisse Verschleißprozesse beim einen Patienten keine klinisch merklichen Beschwerden hervorrufen, ähnliche Prozesse beim anderen Patienten allerdings zu nahezu unerträglichen Beschwerden führen, ist bislang Gegenstand der Forschung.
Risikofaktoren für das Empfinden von Rückenschmerzen sind neben genetischer Prädisposition, Rauchen, Übergewicht und dem Vorhandensein von Verschleißprozessen Eigenschaften wie Ängstlichkeit, Depression, Neigung zu Katastrophisieren, Angst vor körperlicher Bewegung und berufliche Belastungen.
Zahlreiche Faktoren, die zum Teil noch nicht bekannt sind, beeinflussen beim einzelnen Patienten, ob er eher mehr oder weniger Schmerzen empfindet. Das Herausarbeiten dieser Einflussfaktoren erfordert viel Aufwand und Fingerspitzengefühl, um möglichst genau die individuelle Ursache und Beeinflussbarkeit der Schmerzen zu klären.
Zu den häufigen Ursachen von degenerativ bedingten Rückenschmerzen zählen Abnutzungs- und Austrocknungs-Erscheinungen der Bandscheiben. Diese finden vor allem in den unteren, mechanisch mehr belasteten Arealen der Lendenwirbelsäule statt. Ebenfalls häufig sind Verschleißveränderungen der kleinen Wirbelgelenke, die akut „blockieren“ können und somit akute Schmerzen verursachen können. Andererseits können sie ähnlich einer Arthrose am Kniegelenk oder Hüftgelenk zu chronischen Arthrosen führen, die belastungsabhängige Rückenschmerzen mit sich bringen.
Kommt es zu kleinen Einrissen in der Bandscheibe im meistens mittleren Alter (30-55 Jahre), kann unter Umständen Bandscheibengewebe aus dem Inneren der Bandscheibe austreten und in Richtung des sogenannten Wirbelkanals drücken, in dem die Nerven, die die Beine versorgen, verlaufen. Bei einem solchen Bandscheibenvorfall kann es neben den durch die Defekte der Bandscheibe bedingten Rückenschmerzen zu erheblichen Beinschmerzen durch Druckprobleme auf einzelne Nerven kommen. Im Extremfall kann es sogar zu akuten Muskellähmungen der versorgten Muskelgruppen kommen.
Bedingt durch Degeneration der Bandscheibe sowie der kleinen Wirbelgelenke kann es zu sogenannten Instabilitäten in einzelnen Wirbelsäulenbereichen kommen. Dies kann zu „Gleitwirbeln“ führen, die ebenfalls Rückenschmerzen und auch Beinbeschwerden verursachen können.
Vor allem ältere Patienten leiden häufig an den Folgen einer Spinalkanalstenose. Dabei kommt es verschleißbedingt zu Verdickungen bestimmter bindegewebiger Strukturen, die im Wirbelsäulenkanal verlaufen. Durch deren Verdickungen verringert sich der im Rückenkanal vorhandene Platz für die hier verlaufenden Nerven, was vor allem zu aus dem Rücken stammenden Beinschmerzen beim Gehen führt. Diese Spinalkanalstenosen entwickeln sich langsam über viele Jahre und schränken den Bewegungsradius der Betroffenen häufig hochgradig ein.
Effektive Behandlung von Rückenschmerzen: 3 Säulen – 1 Ziel!
Wenn es dann doch zu Rückenschmerzen kommt, stehen zahlreiche verschiedene Behandlungsmodalitäten zur Verfügung. Diese Vielzahl von Optionen lässt sich grob in 3 Gruppen einteilen: die „3 Therapie-Säulen“.
1. Säule: Konservative Therapie
Die erste Säule umfasst alle Techniken der konservativen Therapien. Darunter fasst man alle Maßnahmen der Aufklärung, Anleitung zur Eigentherapie, Bewegung, Physiotherapie, physikalische Maßnahmen, Optimierung der Schmerzmedikation, Verhaltens- und Ergotherapie, psychosoziale Maßnahmen, Infiltrationen, Akupunktur, Stoßwellentherapien, etc. zusammen.
Während man früher Rückenschmerzpatienten häufig körperliche Aktivitäten nicht empfohlen hat, hat hier über die Jahre ein vollständiges Umdenken stattgefunden. Der Schwerpunkt aller konservativen Behandlungsmaßnahmen liegt in aktiven Maßnahmen und solchen, die die Aktivität fördern. Patienten sollen so aktiv wie möglich sein. Für die ganzheitliche Schmerzverarbeitung ist es extrem wichtig, dass die Patienten zudem im Arbeitsleben aktiv bleiben. Ein geregelter Tagesablauf ist für die Schmerzverarbeitung essenziell. Sport und Bewegung spielen somit eine sehr große Rolle in der Behandlung von Rückenschmerzen.
Welche Sportart besonders empfehlenswert ist, ist prinzipiell zweitrangig, wichtig ist, dass die Betroffenen überhaupt körperlich aktiv sind. Eher ungünstig für die Lendenwirbelsäule sind Sportarten, bei denen die Wirbelsäule um ihre Längsachse verdreht wird, z.B. Golfen, Tennis, Squash. Tendenziell günstiger sind Sportarten wie Schwimmen, Geräteübungen, Fitness, Radfahren, Walken und Joggen auf weichem Boden.
Bezogen auf Bewegung und Sport sollte allerdings jeder Patient nach eigenen Vorlieben die für ihn optimale Sportarten mit auswählen. Die Wahrscheinlichkeit, dass durch Sport akute, irreversible Schäden an der Wirbelsäule entstehen, ist extrem gering. Somit ist das Schlimmste, was passieren kann, dass nach bestimmten sportlichen Aktivitäten der Rückenschmerzen initial zunimmt. Dies sollte dann gegebenenfalls zum Wechsel der Sportart führen. Es ist erwiesen, dass Menschen, die regelmäßig sportlich aktiv sind, weniger Rückenschmerzen haben als inaktive Vergleichspersonen. Zudem lässt sich nachweisen, dass, wenn Patienten dann doch an der Wirbelsäule operiert werden müssen, sportlich aktive Patienten deutlich besser mit einer Operation zurechtkommen als sportlich inaktive.
Physikalische Therapiemaßnahmen, Massagen, Wärmeanwendungen, Stromanwendungen, Akupunktur, Stoßwellentherapie, etc., also eher passive Maßnahmen, können begleitend zum Einsatz kommen, allerdings eher nicht als alleinige Therapiemaßnahmen ohne körperliche Aktivität. Physiotherapie stellt einen wichtigen Baustein der Förderung der körperlichen Aktivität dar. Sie sollte Patienten anleiten, täglich im Sinne von Eigenübungen aktiv zu sein.
Mit der Physiotherapie verhält es sich ähnlich wie mit dem Erlernen eines Instrumentes. Allein durch eine gute Klavierstunde pro Woche wird man niemals Klavier spielen lernen, das tägliche Üben muss zu Hause erfolgen.
Sämtliche konservativen Behandlungen richten sich nach dem Bio-Psycho-Sozialen Modell. Dies beinhaltet, dass jeder Schmerz neben der biologisch-körperlichen Komponente, die häufig im Vordergrund steht, von Anfang an immer auch eine psychologische und eine soziale Komponente beinhaltet. So führt Schmerz rasch zu negativen psychologischen Effekten, bis hin zu depressiven Episoden. Schmerz hat massive Auswirkungen auf das Sozialleben eines Patienten, sei es im beruflichen oder im privaten. Die Mitbeachtung der psychologischen und der sozialen Komponente ist bei allen Behandlungen von Anfang an wichtig.
Die optimale Einstellung mit Schmerzmitteln gehört ebenfalls zur konservativen Therapie. Hierbei sollte so viel wie in der aktuellen Situation notwendig, aber so wenig wie möglich eingenommen werden. Wichtig ist, die Medikation und auch die Dosis der Medikation in regelmäßigen Abständen immer wieder neu zu bewerten und anzupassen.
Sind oben genannte konservative Maßnahmen nicht mehr ausreichend erfolgreich, so können Infiltrationen äußerst effektiv zu einer Reduktion der Schmerzen beitragen. Dabei werden schmerzlindernde Medikamente gezielt an schmerzhafte Strukturen injiziert.
Zum Einen hat dies den Effekt, dass es den Patienten im Anschluss besser geht. Zum Anderen hat dies einen diagnostischen Wert: Wenn eine spezielle Infiltration zu einer Besserung des Schmerzes führt, ist dies ein relativ guter Hinweis, dass die behandelte Struktur offenbar mitbeteiligt am Gesamtschmerz des Patienten ist. Häufig werden verschiedenartige Strukturen, die allesamt das Potenzial hätten, den Schmerz auszulösen, nacheinander mittels Infiltrationen kurzfristig ausgeschaltet. Setzt man die Infiltrationsergebnisse dann wie ein Puzzle am Ende zusammen, lässt sich relativ klar sagen, welche Strukturen eher mitverantwortlich für den Schmerz sind und welche Strukturen eher nicht mitverantwortlich für den Schmerz sind. Ergänzt man z.B. bestimmte Cortisonpräparate in die Infiltration, so kann die Wirkung der Infiltration deutlich verlängert werden.
Typische Infiltrationen werden z.B. an den verschiedenen kleinen Wirbelgelenken sowie an den Kreuzdarmbeingelenken durchgeführt. Stehen Schmerzen in den Extremitäten im Vordergrund, können z.B. Wurzelblockaden (PRT‘s) zu einer deutlichen Linderung des Extremitätenschmerzes führen.
Wenn z.B. Infiltrationen der kleinen Wirbelgelenke oder der Kreuzdarmbeingelenke immer wieder zu Besserungen führen, diese Besserungen aber immer nur von relativ kurzer Dauer sind, so kann mit Denervationsverfahren eine „Verödung“ der kleinsten spinnengewebsartigen Nervengeflechte, die diese Gelenke versorgen, erfolgen. Auch diese Denervationen sind keine Dauerlösungen, können allerdings durchaus bis zu ½ Jahr zu einer merklichen Schmerzlinderung führen. Solche Verfahren können dann gegebenenfalls wiederholt werden.
Die bislang genannten Verfahren haben ein relativ geringes Risikoprofil, da sie weder mit einer Operation, noch mit der dauerhaften Einbringung von Implantaten/Fremdkörpern verbunden sind.
Über die zwei weiteren Säulen wird die HÖNNE-ZEITUNG in der nächsten Ausgabe berichten.