Balve/Neuenrade. Das Interesse an einer Ausbildung in Nordrhein-Westfalen wächst – und doch bleiben viele Stellen unbesetzt. Während Betriebe über fehlende Bewerber klagen, suchen gleichzeitig tausende Jugendliche vergeblich einen Platz. Regionale Besonderheiten, unterschiedliche Erwartungen und der Einfluss der Digitalisierung verschärfen die Lage. Um zu veranschaulichen, wo genau die größten Herausforderungen liegen, welche Ausbildungen präferiert werden und wie sich der Arbeitsmarkt in Zukunft noch verändern wird, hat unsere Zeitung intensiv recherchiert und ein Gespräch mit Elisabeth Noke-Schäfer, einer Mitarbeiterin des Teams Weiterbildungsprüfungen der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer zu Hagen geführt.
Zahlreiche Bewerber, doch tausende unbesetzte Stellen
Zum dritten Mal in Folge verzeichnet die Bundesagentur für Arbeit steigende Bewerberzahlen. Rund 101.000 junge Menschen suchen derzeit einen Ausbildungsplatz – doch nur 96.000 Stellen stehen noch zur Verfügung. Auf 100 Ausbildungsplätze kommen damit durchschnittlich 106 Bewerber.
Trotz des großen Interesses bleiben etwa 37.000 dieser Stellen unbesetzt, während rund 40.000 Bewerberinnen und Bewerber keine Ausbildungsstelle finden – ein deutlicher Anstieg gegenüber den Vorjahren.
Laut Elisabeth Noke-Schäfer liegt hier ein klassisches „Matching-Problem“ vor: Jugendliche und Betriebe finden häufig nicht zueinander, da Bewerberinnen und Bewerber gar nicht wissen, welche Ausbildungsberufe es in unserer Region gibt oder wie vielfältig ihre Möglichkeiten tatsächlich sind.
Nur etwa jeder fünfte Betrieb in NRW bildet überhaupt aus – eine zentrale Ursache für das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Auf unsere Frage, inwiefern der Schulabschluss eine Rolle beim Auswahlverfahren spielt, antwortet sie: „Die klassische Bestenauslese ist heute in den meisten Berufen nicht mehr aktuell, die Betriebe haben umgedacht, um langfristig Nachwuchs zu sichern.“ Natürlich erfordern unterschiedliche Berufe auch differenzierte Voraussetzungen, das Vorurteil, dass beispielsweise Hauptschüler oder Bewerber mit Migrationshintergrund keine Chance haben, kann sie jedoch nicht bestätigen.
Die IHK versucht Betriebe und Bewerber gleichermaßen zu unterstützen, dabei spiele natürlich auch der Zugang zu Berufskollegs und Ausbildungseinrichtungen eine Rolle, da eben nicht jeder Bewerber mobil ist. Der Neubau der Talbrücke Rahmede an der A45 sei dabei ein weiteres nicht zu unterschätzendes Problem, da Betriebe rund um Lüdenscheid schwerer, beziehungsweise zeitintensiver zu erreichen sind.
Beliebte und unbeliebte Ausbildungsberufe
Am gefragtesten bleiben klassische Berufsbilder: „Bei Berufen wie Industriekauffrau, Büromanagement, Kraftfahrzeugmechatroniker, Elektroniker, Fachinformatiker oder Bankkaufmann gibt es immer eine hohe Nachfrage.“ Wirklich unbeliebte Ausbildungsberufe gebe es ihrer Erfahrung nach nicht. Die eher unbekannten Ausbildungen Verfahrensmechaniker für Kunststoff sowie Fachkraft für Metalltechnik Fachrichtung Umform- und Drahttechnik seien hier in der Region sehr gut vertreten.
Wer in diesem Jahr keinen Platz gefunden hat, sollte sich nicht entmutigen lassen. Fachleute rechnen für das nächste Ausbildungsjahr mit einer deutlich höheren Nachfrage seitens der Betriebe, insbesondere im Handwerk. Grund dafür ist die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium (G9) in NRW: Durch die zusätzliche Schuljahresstufe werden im Schuljahr 2026/27 viele Jugendliche länger in der Schule bleiben – und damit vorübergehend dem Ausbildungsmarkt fehlen.
Laut der IHK werde daraus wohl keine Lücke auf dem Arbeitsmarkt entstehen. Das durchschnittliche Ausbildungsalter steige ohnehin an, wodurch der Markt zusätzlich verändert werde.
Parallel zu den Entwicklungen auf dem Ausbildungsmarkt verändert die Automatisierung zahlreiche Berufsfelder. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt, dass mittlerweile rund 36 Prozent der Tätigkeiten potenziell von Computern übernommen werden könnten. Besonders betroffen sind Berufe mit geringen Qualifikationsanforderungen; Tätigkeiten, die ein Studium oder hohe Spezialisierung verlangen, gelten als deutlich sicherer.
Ein Forscherteam um den Schweizer KI-Experten Dario Floreano hat zudem einen „Automatisierungs-Risiko-Index“ entwickelt, der zeigt, welche Berufe am meisten gefährdet sind. Demnach zählen Schlachter, Kassierer und Taxifahrer zu den besonders risikoreichen Tätigkeiten. Relativ sicher sind dagegen Berufe wie Arzt, Chirurg, Ingenieur oder Pilot.
Das Online-Tool job-futuromat.iab.de ermöglicht es, das eigene Berufsrisiko zu berechnen und mögliche Alternativen zu prüfen – ein Hinweis darauf, dass Umschulung und Weiterbildung künftig an Bedeutung gewinnen werden.
Vom Aussterben bedrohte Berufe
Durch den fortschreitenden technischen Wandel geraten gerade traditionelle Handwerks- und Dienstleistungsberufe zunehmend unter Druck. Berufe wie Fassküfer, Schuhmacher, Reisebüroangestellte, Postboten oder Bergbauer werden langfristig verschwinden.
„Das ist ein heikles Thema – ob und wie viele dieser Berufe durch KI- Systeme wirklich wegfallen, ist unklar“, erläutert Frau Noke-Schäfer. Industriell-technische Berufe wie Elektroniker oder Mechatroniker seien aber wohl kaum ersetzbar, ebenso wenig wie kreative Berufe wie Floristen. Berufsbilder werden viel eher überarbeitet und weiterentwickelt, während die KI zunehmend integriert werde.
„Ausbildung ist kein alter Hut – gerade in industriell-technischen Berufen ist sie unverzichtbar“, betont die Expertin.
NRW steht vor mehreren Herausforderungen: Einerseits fehlen Ausbildungsplätze und attraktive Bedingungen für junge Menschen, andererseits verändert die fortschreitende Digitalisierung den Arbeitsmarkt.
Unternehmen müssen deshalb nicht nur mehr ausbilden, sondern auch flexibel auf den technologischen Wandel reagieren – durch bessere Ausbildung, faire Chancen und gezielte Weiterbildung.
„Nur wenn Betriebe und Jugendliche gleichermaßen bereit sind, sich weiterzuentwickeln, kann die Lücke zwischen Nachwuchsmangel und Automatisierungsdruck geschlossen werden“, fasst die IHK-Mitarbeiterin zusammen. LB





