„Mumpf“ machte es. Ferdinand nahm allerdings nicht groß Notiz davon. Er war es gewohnt sich auch schon mal in einen Haufen Dung zu knien und es störte ihn nicht besonders. Die Hinterlassenschaft kam von einer seiner Damen. Die ganze Wiese war von den flachen grün-braunen Fladen überzogen, entweder man strengte sich besonders an, ein ungarniertes Fleckchen Wiese zu finden, um sich hinzulegen, oder man pfiff drauf, dass man auch mal etwas schmutzig wurde.
Ferdinand lebte schon so lange hier, dass er Letzteres vorzog. Gelassen lag er auf der Wiese und schaute sich um. Es war schon spät im Herbst. Der Advent stand vor der Tür. Die Wiese war abgefressen. Alles ließ sich gut überschauen. Jeder einzelne Haufen war in seinem Blick. „Mumpf“ machte es auch, als der Traktor durch die große Schlammpfütze fuhr, die den Eingang zur Weide markierte. Allerdings brachte er heute keinen Futterballen wie sonst.
Hinten am Traktor hing ein grüner Viehtreibewagen. Das Gefährt sah aus wie ein Käfig auf Rädern. Die Heuraufe in der Mitte wirkte allerdings recht verlockend. Ein zweites Auto fuhr an der Weide vor. Aus dem geräumigen silbernen Bulli, der allerdings mal eine Wäsche gebrauchen könnte, stieg ein hochgewachsener Mann mit Schnauzer aus. Er ging zum Bauern, der gerade den Treibewagen abkoppeln wollte.
„Grüß Dich!“, sagte er. „Den da hinten meinst Du?“ Er wies auf Ferdinand. „Ja, schon.“ „Wirklich den?“ – „Ja, warum nicht?“ – „Joa, kann man machen. Ich denke das geht auf jeden Fall. Aber Du hast den schon so lange, warum willst Du Dich von ihm trennen?“ – „Joa. Tiere kommen, Tiere gehen.“ –
„Hey, er kann Euch hören!“ Erschrocken drehten sich der Bauer und der Geländewagenfahrer um und fragten wie aus einem Mund: „Wer?“ Die Frage ging in Richtung der jungen Frau, die gerade mit ihrem Hund an der Wiese vorbeispazierte. Sie hatte das Gespräch unfreiwillig mitgehört. „Das Ihr tut was Ihr tut ist die eine Sache. Aber müsstIIhr das dem armen Tier so brühwarm erzählen?“ Die beiden Männer mussten lachen.
„Oh, eine Bullenflüsterin. Wenn Du meinst, dass der Alte versteht, was man ihm sagt, dann mach ihm doch mal klar, dass er es sich hier im Viehtreiber gemütlich machen soll. Auf mich hört er nicht!“ – „Das würde ich an seiner Stelle auch nicht! Hoffen wir, er hat das alles nicht gehört, sonst startet er noch einen Fluchtversuch!“, antwortete die Frau.
Indem wandten sich die beiden Männer wieder ihrem Gespräch zu. „Also, was meinst Du? Ist der in Ordnung? Dann bringe ich ihn Dir, wenn alles klappt, morgen früh vorbei!“ – „So wird es gemacht“. Die Frau schaute unversöhnlich und spazierte weiter mit ihrem Hund. „Abgemacht!“, hieß es schlussendlich zwischen den beiden Männern. Mit einem Handschlag besiegelten sie ihr Geschäft.
Ferdinand beobachtete sie, wie sie in ihre Fahrzeuge stiegen und die Weide verließen. Ferdinand kam ins Grübeln. Er wusste natürlich, wohin die letzte Reise im Viehtreibwagen ging. Dafür brauchte es kein Gespräch vor seinen Ohren. So viele hatte er schon ziehen sehen. Er hatte bisher den Umstand immer hingenommen, dass das Leben eines Rindes im Stall beginnt und beim Metzger endet.
Als Bulle war er da bisher in einer privilegierten Position gewesen, lebte er hier doch schon viele Jahre, aber dass der Tag irgendwann kommen würde, war klar. Tiere kommen, Tiere gehen.
Langsam stand er auf, ging in den Viehtreibwagen, um sich ein letztes Mal den Pansen mit frischem Heu vollzuschlagen. Es wurde Nacht. Ferdinand schlief ein.
Von einem lauten Poltern wurde er am nächsten Morgen geweckt. Der Bauer schloss hinter ihm das Gatter des Viehtreibewagens in dem der stattliche Bulle geschlafen hatte, bestieg seinen Traktor und fuhr los. Die Gatterstäbe kamen immer näher und wohl oder übel musste sich Ferdinand langsam in die Senkrechte begeben, wenn er nicht erdrückt werden wollte.
Langsam stand er also auf und trottete los. Seine Hufe stapften durch die Kuhfladen auf der Wiese, durch die Pfütze am Eingang und betraten dann die Straße, die ihn zu seinem letzten Ziel führen sollte. Doch nach etwa fünfzehn Minuten Fußmarsch holperte der Treibewagen plötzlich. Ein dicker Ast zerbarst unter seinen Reifen. Ungerührt fuhr der Traktor weiter, doch das Holpern hatte die Verriegelung des Gatters gelöst. Ferdinand hatte sich eigentlich seinem Schicksal ergeben, doch plötzlich glimmte in ihm der Wunsch nach Freiheit. Das Wort „Fluchtversuch“ klang plötzlich gar nicht mehr so schlecht in seinen Ohren.
Kurzentschlossen stieß er die Gattertür mit seiner Nase auf und stand mitten auf der Straße. Völlig frei. Er trottete los und bog in einen Seitenweg ab, während der Traktor weiter die Straße hinab Richtung Stadt knatterte. Anscheinend hatte der Bauer seinen Ausbruch nicht bemerkt. Ferdinand begann also seinen Weg in die Freiheit.
Nach einem längeren Fußmarsch kam er an einer Wiese vorbei. Auf der Wiese standen Schafe. Ferdinand war müde. Er beschloss, sich zu den Schafen zu gesellen. „Na, was treibt ihr hier?“, fragte er neugierig. „Wir sind ganz aufgeregt!“, antwortete ihm eines der Schafe mit brechender Stimme. „Wir sind ausgewählt, beim großen Krippenspiel mitzuwirken?“ – „Beim Krippenspiel?“ – „Ja ganz genau. Jedes Jahr zu Weihnachten wird unten in der Stadt ein Krippenspiel aufgeführt. Und wir sind dieses Jahr mit von der Partie. Gleich kommt der Schäfer und holt uns ab“. Sprach’s und in dem Moment betrat ein schlaksiger Mann mittleren Alters die Wiese. Er trug eine Filzmütze, eine Brille und hatte Segelohren. „Auf geht’s!“, rief er seinen Schafen zu.
Die Herde setzte sich in Bewegung. Von Ferdinand nahm er keine Notiz.„Krippenspiel?“, dachte Ferdinand bei sich. „Das klingt interessant!“ Langsam hob er seine Hufe und begann der Herde hinterherzutrotten. Umspielt von zwei lebhaften Bordercollies bewegte sich die lange Karawane gemeinsam mit ihrem seltenen Gast in Richtung Innenstadt.
Der Schäfer schien in seiner eigenen Welt und bemerkte auch während des gesamten Weges nicht, dass sich zu seinen gut 30 Schafen noch ein weitaus größeres Tier gesellt hatte. In der Stadt angekommen, traf die Gruppe zunächst auf eine alte Frau. Sie stand inmitten der Kulissen für das Krippenspiel und war ganz aufgelöst. Zwischen Holzzäunen und Strohballen rannte sie nervös auf und ab.
„Es tut mir so leid!“, wiederholte sie immer wieder. „Gerhild“, sprach ihr ein älterer Mann beruhigend zu. „Mach Dir keine Vorwürfe, Du kannst doch nichts dazu!“ – „Aber ihr braucht doch nun mal einen Bullen. Was ist denn ein Krippenspiel ohne Ochs und Esel?“ – „Ja, aber ich bin mir sicher, dass ihr Euch das nicht so ausgesucht habt.“ – „So wird doch der ganze Weihnachtsmarkt um seine Attraktion beraubt!“ – „Ja nun …“, wollte der ältere Mann gerade beschwichtigen, als der Schäfer auf sich aufmerksam machte: „Ich bin da – wer noch?“, feixte er.
„Ah, Sören, gut, dass Du schon mal da bist. Und noch besser: Deine Schafe hast Du auch gleich mitgebracht. 1,2,3,4… oh, ich höre lieber auf, es werden schon alle 30 sein, nicht, dass ich gleich beim Schäfchenzählen einschlafe.“, witzelte der ältere Mann und blickte aufmunternd in die Richtung der Frau. Gerhild musste schmunzeln und drehte sich zu den Tieren um. „Na ja, zumindest die Schafe …“, stockte sie mitten im Satz.
„Wo kommt der denn her?“, entfuhr es ihr erschrocken, während sie auf Ferdinand wies. „Wer?“, fragte der Schäfer, als er plötzlich und offenbar erstmals den groß gewachsenen Ochsen zwischen seinen Schafen sah. „Upsi! Das weiß ich nicht. Kennen Sie ihn?“ „Und ob ich den kenne. Sehen Sie nicht die Ohrmarke? Den haben wir extra fürs Krippenspiel gekauft. Er sollte die Nachfolge für unseren Willrich antreten, der leider letzten Monat das zeitliche gesegnet hat, aber als er heute Morgen abgeholt werden sollte, ist er auf dem Weg hierher verschwunden!“ –
„Tadaa! Und nun ist er hier. 1A-Weihnachtswunder!“, freute sich der Schäfer, drehte sich um und marschierte schnurstracks in Richtung einer der Fressbuden, die gerade ihre Pforten geöffnet hatte. Der älteren Frau fiel offensichtlich ein Stein vom Herzen. Der ältere Mann schlug ihr auf die Schulter und begann die Tiere in ihre Ställe zu bringen.
Nun war der Abend gekommen. Der Dorfplatz war geschmückt und erstrahlte in hellen Lichtern. Die Schafe hatten es sich in den Holzverschlägen vor der Bühne gemütlich gemacht. Der örtliche Musikverein blies besinnliche Weihnachtslieder.
„Wir suchen eine Bleibe für die Nacht, denn in allen Herbergen ist kein Platz“ schallte es von der Treppe des großen Herrenhauses, das als Kulisse für das Krippenspiel der lokalen Theatergruppe diente.
Eine Herberge hatte Ferdinand jetzt auch gefunden. Er stand im Stall direkt neben einem Esel. Auf der hoch exponierten Bühne hatte er alles im Blick und die vielen angereisten Zuschauer konnten ihn gut sehen.
Im Publikum stand auch der hochgewachsene Mann mit Schnauzbart, den er schon von seiner Weide kannte. Neben ihm standen die ältere Frau. Wie sich herausstellte, waren sie Mutter und Sohn. Jedes Jahr stellten sie die Tiere für das Krippenspiel in dem kleinen Ort zur Verfügung.
Künftig sollte Ferdinand neben Erich dem Esel zum festen Ensemble gehören. Das Jahr über würde er gemeinsam mit den Schafen auf einer Weide leben. Als er darüber nachdachte, wie es wohl sein würde statt in Kuhdung in Schafsdung zu knien, klopfte es an seinen Stall.
„Na alter Junge!“ Der Bauer trat an die Holzstäbe und streichelte Ferdinand über die Nase. „Wie gefällt es Dir hier? Du warst jetzt so lange bei mir, aber ich konnte mir Dich einfach nicht mehr leisten. Das Geschäft mit Deinen Damen übernimmt jetzt der Tierarzt. Aber in der Pfanne wollte ich Dich nun auch nicht landen sehen. Bei der alten Gerhild wirst du es gut haben. Es wird Dir gefallen mit den Schafen auf der Weide zu leben. Ich wünsche Dir frohe Weihnachten. Mach’s gut, mein Alter.“
Ferdinand spürte eine tiefe Zufriedenheit. Langsam beugte er sein Knie, als er sich im Stroh niederlassen wollte, als es plötzlich „Mumpf“ machte. „So ist das also …!“, dachte er bei sich und schloss getragen von einer tiefen Gelassenheit die Augen, um ein wenig den Klängen der Blasmusik zu lauschen.
Daniel Pütz